Wer war Curnonsky
„Maurice-Edmond Sailland: Zehn Männer, zwanzig Epochen, dreißig Legenden“.
„La bonne cuisine c’est –
Quand les choses ont le goût –
De ce qu’elles sont“
„Gute Küche heißt, dass die Dinge nach dem schmecken, was sie sind“
Wer ist Curnonsky? Wer ist der Mann, der mit Toulouse-Lautrec Absinth trank? Wer war der erste Lektor der berühmten Colette? Wer ist der Mann, der das Ghostwriting geradezu erfunden hat? Wer ist der Mann, dessen Leidenschaft für die hohe Kochkunst beitrug, den Guide Michelin zu entwickeln? Welcher Gastrokritiker hat erstmals die Provinzen Frankreichs bereist und beschrieben?
Fragen über Fragen, denen Inge Huber in jahrelanger akribischer Archivarbeit nachgegangen ist. Curnonsky ist Maurice-Edmond Sailland, der berühmteste Gourmet und Gastronom Frankreichs und zugleich der bekannteste Unbekannte des 20. Jahrhunderts. Sein schillerndes Leben im Reich der Erotik und Schlemmerei gleicht einem Kriminalroman und zugleich einem griechischen Drama. Die Geschichte dieses Curnonsky kann nur das Leben schreiben.
„Ich war tour à tour Romancier, Chronist, Revueschreiber, Humorist, Gastronomischer Autor, Werbetexter, Varietétheater-Kritiker, Novellist, Klatschkolumnist, Essayist, Sekretär, freier Mitarbeiter und Lohnschreiber, „Nègre für Willy“! – (apropos… in der Literatur haben manche Neger [sic] mehr Talent als die Autoren, die ihre Bücher signieren.) Ich gehörte zu der Generation, die sie erlebt hat die Geburt der Elektrizität, des Telefons, des U-Boots, des Fahrrads, des Automobils, des Flugzeugs, des Kinos, des Radios … Ich habe niemals ein Telefon benutzt, ich bevorzuge immer noch die Zeitung gegenüber dem Radio und ziehe es vor, ins Theater statt ins Kino zu gehen!“
DAS VERGESSENE GENIE DER BELLE ÉPOQUE
Unter seinem echten Namen kennt Maurice Edmond Sailland eigentlich keiner. Auch unter seinem Künstlernamen Curnonsky ist er nur einem kleinen Zirkel von wahren Kennern und Genießern bekannt. Daher ist es höchste Zeit, das zu ändern. Denn immerhin ist dieser Mann kein Geringerer, als derjenige, der der französischen Küche den Weg bereitete, der im Jahre 1927 zum „Prinz der Köche“ gewählt wurde, und der am Beginn des „Guide Michelin“ stand. Doch Curnonsky war nicht nur ein leidenschaftlicher Gourmet, sondern auch ein hoch begabter Literat und Journalist, der unzählige Reportagen, Essays, Romane und Theaterstücke verfasste. Der Künstler Henri de Toulouse Lautrec, die Schriftsteller Émile Zola und Paul-Jean Toulet zählten zu seinen Freunden.
Kaum bekannt, und daher umso spannender, ist Curnonskys Verbindung zu Willy und seine langjährige Freundschaft mit Colette: Für Willy schrieb er als Ghostwriter zahlreiche Romane, für Colette lektorierte er die ersten Manuskripte ihrer berühmten Claudine Romane.
Oft wird Curnonskys Schlüsselrolle bei der Entstehung des Guide Michelin verleugnet. Unter seinem Pseudonym „Bibendum“ schrieb er viele Jahre die Reifenkolumne Les Lundis de Michelin, aus der der wohl berühmteste Gastronomieführer der Welt hervorgehen sollte. In dieser Rolle bereiste Bibendum ganz Frankreich und erstellte nichts weniger als eine kulinarische Landkarte der Regionen. Inge Huber zeichnet Curnonskys aufregendes und schillerndes Leben nach – von seiner Kindheit in der Stadt Angers, durch das Paris der Belle Époque bis in die Fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Folgen Sie Curnonsky in die Pariser Salons, in die Spielhöllen und Opiumhöhlen, in die Theater und Cabarets, wo sich berühmte Sänger, Maler und Literaten ebenso wie leichte Mädchen trafen.
(Text Coll. Rolf Heyne)
„Mein Freund, mein Fall dürfte einzigartig in der Welt der Literaten sein, denn ich bin ein Märtyrer meines Pseudonyms. Dieser Curnonsky und dieser Sailland sind ein und dieselbe Person. Dieses Pseudonym hat mir schon viel Ärger gebracht.“
Curnonsky, schreibt ein Freund und Zeitgenosse, dieser Gourmet der Extraklasse würde denen, die ihn liebten, die Erinnerung an einen perfekten Literaten, an einen feinen, zarten und kultivierten Geist hinterlassen… Diese anekdotischen Chroniken eines glänzenden gesellschaftlichen Lebens sind bereits Geschichte! Curnonsky ist einer der kuriosesten Menschen unter seinen Zeitgenossen, er hat diese verschiedenen Titel, deren bloße Aufzählung zwei Seiten eines Wörterbuchs füllen würde… Er hat 200 Bände veröffentlicht und gilt als faul: Er konnte nie Geld verdienen, aber seine unzähligen Freunde halten ihn für einen perfekten Literaten. Das reicht für seinen Ruhm, wenn nicht sogar für sein Vermögen! Und das eine ist ihm genauso egal wie das andere. Curnonsky, der Dichter, Feinschmecker und unvergleichliche Freund, war mehr als ein halbes Jahrhundert lang eines der „heiligen Monster“ von Paris, das zur Verzauberung derer, die sich ihm näherten, von gutem Essen und schöner Sprache lebte. Es ist diese einzigartige Persönlichkeit, die auch der einzige Prinz der Gastronomen war.
Léon Abric:
Die literarische Welt, die Curnonsky seit 45 Jahren beobachtet, war für ihn ein weites Feld der Komödie, – eine Komödie von 100 diversen Akten. Wenn er eines Tages seine Memoiren schreiben würde, – wie man ihn immer wieder darum bittet, wird er das wertvollste und unterhaltsamste Dokument über das Pariser Leben dieser Epoche – „La Belle Epoque“ hinterlassen.
CURNONSKY (…) Seinem Ruf gerecht werdend, sollen 80 Restaurants in Paris jeden Abend einen Tisch für ihn reserviert haben, falls er dort auftauchen sollte. Er wurde 1872 in eine alteingesessene Familie in Angers geboren. Seine Mutter stirbt bei seiner Geburt und sein Vater verlässt ihn. Er wird von seiner Großmutter aufgezogen. Mit 18 Jahren geht er nach Paris, um Literatur zu studieren. Er legte sich ein Pseudonym zu, und da die französisch-russische Freundschaft an der Tagesordnung war, entschied er sich für Curnonsky, das sich aus dem lateinischen Wort „cur“ für „warum“ und „non“ für „warum nicht“ plus „sky“ zusammensetzt. Er schreibt für verschiedene Zeitungen und wird unter anderem einer der „Ghostwriter“ von Willy, dem ersten Ehemann von Colette. Curnonsky war für seinen Appetit und seine Größe (1,85 m und 120 kg) bekannt. Schließlich stellte er sein Talent als Literat und seinen soliden Appetit in den Dienst der Gastronomie. Er begann mit seinem Freund Marcel Rouff eine Reihe von 28 Gastronomieführern über die regionale Küche und die besten Restaurants in Frankreich zu verfassen. 1927 organisierte die Zeitschrift „LE BON GÎTE ET LA BONNE TABLE“ ein Referendum, um den „Prinzen“ der Gastronomen zu wählen. Curnonsky wird gewählt. Er wird von Diners zu Diners eingeladen und erfüllt seine Aufgaben mit wunderbar guter Laune. Parallel dazu setzt er sein literarisches und gastronomisches Werk fort. Er gründete 1930 die „Académie des gastronomes“, deren erster Präsident er wurde. Am 22. Juli 1956 stürzte er aus dem Fenster seiner Wohnung und starb auf dem Bürgersteig. Er wäre 84 Jahre alt geworden.
„Curnonsky! – ein spitzbübisches Gesicht mit schelmischen Augen, dicken Augenbrauen, ein kleiner Schnauzer, bereits vom Tabak vergilbt, kleiner Bauchansatz, ein Zwicker, der ihm gelegentlich von der Nase rutschte, Krawatte schräg, wüste Manschetten – so spielte er mehr als fünfzig Jahre eine Komödie in Paris, seinem Universum.“
„Die Politik und die Literatur sind die zwei Berufe die man ausüben kann, ohne etwas gelernt zu haben. Und die meisten der Schreiberlinge und ähnliche Akteure sind vor allem Leute, die über Dinge, die sie nicht verstehen, schlecht schreiben.“
Die 1892 gegründete Zeitung Le Journal war die literarischste aller Pariser Zeitungen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit herrschte in der Bar des Le Journal reges Treiben, man traf dort alle berühmten Romanautoren, Stars und Journalisten. Hier traf sich auch der junge Sailland, der bald unter dem Namen Curnonsky bekannt wurde, mit seinen Freunden. Im Jahr 1894 entdeckte der Künstler Édouard Michelin einen Stapel mit Reifen, der ihm wie ein Mann ohne Arme erschien. „Schau“, sagte er zu seinem Bruder André, „mit zwei Armen, sähe er aus wie ein Männchen.“ Die Idee wurde kurze Zeit später umgesetzt. Sie diente dem Karikaturisten O’Galop für den ersten Plakatentwurf, den er den Michelins bald an der Bar der Redaktion präsentierte: Ein dickes Männchen aus Reifen war zu sehen, es saß an einem Tisch und hielt einen, mit Scherben und Nägeln gefüllten Kelch in die Luft. Darüber stand der lateinische Trinkspruch von Horaz, dem römischen Dichter: NUNC est Bibendum!!.. c’est à dire „À VOTRE SANTÉ – Le PNEU Michelin BOIT L’OBSTACLE!“ oder „Jetzt ist die Zeit zu trinken!“ Der Entwurf gefiel den Brüdern, jetzt fehlte der Figur nur noch ein Name. Zufällig standen Curnonsky und Simon Arbellot in der Nähe des Tresens. Curnonsky, der Lateiner warf einen kurzen Blick auf die Zeichnung und las den Text. Er kannte den klassischen Trinkspruch und reagierte spontan: „Meine Herren, nennen Sie das Männchen doch Bibendum!“ Die Herren waren begeistert. Erfolg!!! Bibendum wurde das Maskottchen des Unternehmens. In dieser turbulenten Welt, gab Curnonsky sein Debüt als großer Journalist. Hier, in der Bar des Journals, glänzte er bald mit dem berühmten Ausspruch, der seinen Ruf als Mann des Geistes festigen sollte: „Es gibt die vierzig Unsterblichen in der Académie Française, sagte er eines Tages, aber es gibt nur einen Unsterblichen, und das ist Michelin“. Ab 1908 nahm der zukünftige Gastrokritiker auf Wunsch der Michelins das Pseudonym Bibendum an.
Simon Arbellot erinnerte sich in seinen Memoiren noch genau an diesen Tag im Jahre 1894, den Moment der Geburt des Maskottchens und beschrieb das Ereignis folgendermaßen:
„Es war an der Bar des Les Journal, der erste Plakatentwurf von O‘Galop lag auf dem Tisch. Die Brüder Michelin zeigten Curnonsky das Plakat und baten ihn, einen Namen für dieses drollige Reifenmännchen zu finden. Curnonsky warf einen flüchtigen Blick auf die fertige Zeichnung, las den Trinkspruch „Nunc est Bibendum“, augenblicklich hatte er die Lösung, und blitzschnell fiel ihm ein passender Name ein: „Bibendum!. Meine Herren, warum nennen Sie das Männchen nicht Bibendum? Ja, Bibendum!“ – BIBENDUM war geboren.
BIBENDUM
„Diese Formulierungen, die ich lanciert habe, gehen über die Domäne der Werbung hinaus, – diese Sätze gingen in die Geschichte der Werbung ein, diese Sätze lenkten die Aufmerksamkeit auf die neue Mode der Verkehrsmittel. Es ist lange her, dass sie die kleine Kutsche verdrängten – ich spreche natürlich von einer Zeit vor mehr als sechzig Jahren, damals, als ich noch nicht geachtet wurde, war ich es, der mit Bibendum signierte…“
L’AUTO, LE TOURISME ET LA GASTRONOMIE
das Auto, der Tourismus und die Gastronomie
PROST! – À VOTRE SANTE !
Nunc est bibendum ! – lasst uns trinken!
„Mit der Konstruktion des Automobils hat der Mensch Gott übertroffen. Klar, Gott existiert naturgemäß außerhalb von Zeit und Raum, er hatte sich selbst verboten, den Triumph der Freude von 140 km/h zu fahren. „Seine Ewigkeit erlaubt ihm nicht, den Rausch der Geschwindigkeit zu genießen, ihm ist es untersagt, für alle Zeit den Rekord der Geschwindigkeit zu brechen. Im Jahre 1892 war ich Sorbonnard, Sorbonnicole und Sorbonnifiant – ich lebte zwischen Rive-Gauche und frequentierte die Bar von Chat-Noir…“
Und dieser Bibendum, das ist Curnonsky!
„Sein Thron war ein Fass, sein Zepter eine Gabel!“
1972, zum 100. Geburtstag von Curnonsky, erschien ein Artikel von Honoré Bostel in der Zeitschrift Lui, dazu das Bild eines Michelin Männchens mit einer Gabel, die das Gesicht Curnonsky erkennen lässt.
Das Portrait eines Gourmands, Maurice-Edmond Sailland, genannt CURNONSKY.
(…) Ein sinnliches Portrait eines Gourmets, der das Leben geistvoll zu genießen verstand: „Hundert Jahre nach seiner Geburt ist er noch immer bei allen Festmahlen dabei, Maurice Edmond Sailland, genannt Curnonsky, großer Esser und geistreicher Literat, international renommierter Feinschmecker und Schlemmer. Er machte aus dem Kochen eine hohe Kunst und aus dem kundigen Genießen eine wahre Philosophie.“ Bei Curnonskys Hundertstem stoßen die Köche an: „Auf dein Wohl, mein Prinz! Du, dessen eiserner Magen niemals durch Wasser zum Rosten gebracht wurde!“ Curnonsky, dieser Gastronomiejüngers mit der feinen Wesensart und dem ungeheuren Appetit war ein Gigant der Gabel, die goldene Kochmütze der französischen Küche und der auserwählte Prinz der Feinschmecker. Curnonsky stand gegen drei Uhr nachmittags auf und wie ein Athlet schonte er seine Kräfte für den Marathon des täglichen Abendessens. Curnonsky starb nicht in seiner kleinen Wohnung am Square Henri-Bergson, die unglücklicherweise nicht im Erdgeschoss lag, denn er stürzte aus dem Fenster. Den Sarg schmückten seine Freunde mit einem Kranz aus Gemüse und einem Bouquet garni. Curnonsky wurde in Angers geboren. Für das Standesamt war er Maurice-Edmond Sailland, Sohn eines baskischen Vaters und eine Mutter aus dem Anjou. (…)
„Stell dir vor, mein Freund – zehn Louis pro Artikel verdiene ich jetzt, ich überlebe mit dem Reifen. Ich überlebe mit Kautschuk!“
Der Werbefachmann Curnonsky
„Die Kunst alleine ernährt nicht den Schriftsteller“
„Da ich nun ein respektables Alter erreicht habe und nach bestem Wissen und Gewissen lebe, bleibt mir nichts anderes übrig, als die wichtigsten Ereignisse meines Lebens festzuhalten und einige Aspekte zu erklären. Curnonski oder Curnonsky? Wie soll ich das erklären – weder das eine noch das andere. Ich bin kein anderer als Maurice-Edmond Sailland, einziger Sohn von Edmond-Georges Sailland. Ich erkläre seit mehr als fünfzig Jahren, dass ich weder Russe, Pole, ukrainischer Jude, Tscheche, Moldawier, Skipetar oder Poleve bin, ich bin Franzose und Anjou, genannt „sac à vin“ (Weinsack). Ohne Zweifel muss ich hinzufügen: Ich bin weder Prinz noch Graf noch überhaupt ein Prinz, und doch haben mich vor über dreißig Jahren dreitausend Köche zu ihrem Prinzen der Gastronomen ernannt.“